Zu wenig zugetraut

Ja, ich gestehe: Ich traue meinen Hunden manchmal viel zu wenig zu. Unser Urlaub in der Schweiz hat mir das mal wieder klar vor Augen geführt. Lis ist nämlich in Wirklichkeit eine Bergziege und Charlie ein Hochleistungssportler.
Vor der Reise
Schon bei der ersten Planung unserer Reise in die Berge machte ich mir sofort Gedanken. Würde ich einen Rucksack brauchen, in dem ich Lis transportieren könnte? Wäre ich in der Lage, beide Hunde zu führen? Charlie die nötige Sicherheit zu geben, damit er in unwegsamen Gelände zurecht kommt? Ich startete einen Aufruf in den sozialen Medien auf der Suche nach einem geeigneten Rucksack, in dem Lis angenehm zu tragen sei. Klickte mich durch hunderte Websites. Fand nicht das, was ich für passend hielt. Verwarf den Gedanken wieder. Kaufte später einen normalen Wanderrucksack, der Lis’ Volumen entsprach, nur zur Sicherheit. Einen Rucksack brauchte ich sowieso.
Hatte die schlimmsten Vorstellungen, dass Charlie einen Abhang hinunter purzeln würde. Sich ständig an Felsen den Kopf stoßen würde. Sich die Pfoten blutig stoßen würde, weil er Steine und Felsen im Gelände nicht erkennt. Packte nicht nur unsere Standard-Ausrüstung an Verbandsmaterial ein, sondern auch eine entsprechende Anzahl an Schuhen, falls ich verletzte Pfoten würde pflegen müssen.
Bewunderte innerlich Buddy schreibt, weil Kerstin mit Amber Canicross beginnt und an entsprechenden Veranstaltungen teilnehmen möchte. Und seufzte, weil Lis dafür zu alt ist und Charlie als Zughund wohl nicht geeignet. Wie soll ein Hund, der nicht sieht, in unbekanntem Gelände ziehend voraus laufen?
Erste Lektion
Kaum in der Schweiz angekommen, wurden wir auf die erste Probe gestellt. Die Schwester des FT-F hatte zu einer Wanderung gerufen, samt Hunden. Da sie selber Hundebesitzerin ist und um Lis‘ Alter und Charlies Einschränkung wusste, ahnte ich nichts Böses. Außerdem waren Kinder dabei und sie wusste, dass der FT-F und ich eher ungeübte Wanderer sind. Hätte ich sie mal nicht so unterschätzt.
Die Wanderung führte von unserem Dorf aus ins nächste Tal zu einem See. Insgesamt betrug unsere erste Wanderung über 9 km, mit schmalen Steigungen, felsigen Stiegen im Hang und einem Höhenunterscheid von 200 m. Für den geübten Wanderer bestimmt nicht aufregend, für uns, die aus dem flachen Rheinland kommen und das Siebengebirge für hoch halten, schon.
Da ich nicht wusste, was uns erwartet, war ich guter Dinge und lief. Und lief. Und lief. Die Hunde ebenso. Es scheint ein psychologischer Vorteil zu sein, die Strecke und deren Gesamtlänge nicht zu kennen. Charlie war begeistert bei der Sache, lief in übersichtlichem Gelände und an einem See frei, ansonsten führte ich ihn an der Leine. Lis war wie ausgewechselt. Als hätte jemand einen Schalter umgelegt, lief sie. Ob es an der guten Höhenluft lag, an dem guten Wetter – keine Ahnung. Aber ich habe Lis lange nicht mehr so gut gelaunt lange Strecken laufen sehen, ohne Anzeichen von Erschöpfung zu zeigen. Sie blieb nicht stehen, auch nicht im Freilauf. Machte nicht den traurigen „Ich bin alt und mag nicht laufen“-Blick. Sondern strahlte und lief und kletterte, als wäre sie endlich in ihrem Element. Ich habe meinen eigenen Hund nicht erkannt.
Auf den Steigungen wurde Lis etwas langsamer, war aber sehr sicher im Tritt und bei den kurzen (Trink-)Pausen, die wir immer wieder einlegten, setze sie sich teilweise noch nicht mal hin. Sie hatte irgendwie ihr Tempo gefunden und lief wie ein Duracell-Hase. Konstant und gleichbleibend.
Lis lief also bestens und ich konnte sie an einen der Jungs „abgeben“ in den Bereichen, in denen der Weg sehr schmal wurde und die Hunde an der Leine geführt wurden. Und so hatte ich Zeit, mit Charlie zu „experimentieren“.
Abgrund? Welcher Abgrund?
Eine meiner Sorgen bewahrheitete sich schnell: Charlie und die Abgründe. Er hat einfach kein Verständnis dafür, dass nach der Kante keine Stufe kommt, auf der man wieder Halt findet. Es fehlt ihm offensichtlich an Bewusstsein für Höhe. Da mich dieser Gedanke schon vorher gequält hatte, führe ich Charlie auf den schmalen Bergwegen an der Leine. Rechts Felsen, links Abhang.
Und wie befürchtet, ging Charlie in seinem unerschütterlichen Gottvertrauen davon aus, dass der Abgrund etwas wie eine Treppe sein müsse und tastete mehrfach mit der Vorderpfote hinein, um die nächste Stufe zu finden. Zum Glück in recht langsamen Tempo, so dass ich ihn immer mittels eines „Stopps“ bremsen konnte und mich nicht mit aller Gewalt als Gegengewicht in die Leine werfen musste. Nur einmal war er sehr zügig unterwegs, dort bewiesen dann Geschirr und Leine Materialqualität, mit einem beherzten Ruck konnte ich Charlie wieder auf den Weg ziehen.
Aber in allen anderen Belangen machte Charlie mir eine lange Nase und führte mir vor, dass ich ihn total unterschätze. Nach kurzer Zeit war ihm klar, dass es hier keine ebenen Waldwege oder Bürgersteige gab. Und zog die Konsequenzen: Bei jedem Schritt hob er die Pfoten etwas höher, als normal. Nur ein paar cm, was aber dafür sorgte, dass er Unebenheiten gut überwinden konnte.
Diese Gangart sah zwar sehr komisch aus (Stichwort: „Storch im Salat“), war aber sehr effektiv. Und nach ein wenig Übung hat er das sogar in schnellerem Tempo durchalten können. Charlie entwickelte also eine Strategie, wie er mit Bergwegen umgeht. Ganz ohne meine Hilfe.
Auf der starken Steigung entschied ich dann, ihn voraus gehen zu lassen. An der Leine natürlich. Der Weg war zu schmal, als dass wir nebeneinander laufen konnten und hinter mir war er die ganze Zeit gut zurechtgekommen. Ich wollte sehen, wie es läuft, wenn er voraus geht.
Zweite Lektion
Charlie lief also im Geschirr an der Leine voraus. Sein Geschirr ist zwar kein Zuggeschirr, aber Charlie wandelte es auf diesem schmalen Pfad kurzerhand in eines um. Er lief locker voraus, meine Kommandos „rechts“, „links“ und „Stufe“ (eignet sich auch auf steinigen Wegen mit Steigungen perfekt!) setzte er sofort um, so dass wir erstaunlicher Weise ein richtig gutes Tempo den Berg hinauf hatten. Ich war von mir selbst überrascht. Durch Charlies leichten Zug und seine Tempo-Vorgabe war ich richtiggehend schnell unterwegs. Ich wähnte mich schnaufen in Lis Tempo den Berg hoch kriechen und nun fand ich mich locker trabend wieder. Und das alles nur, weil ich Charlie nach vorne gesetzt hatte. Dadurch, dass ich ständig mit ihm sprach und auch noch Lob einfließen musste, konnte ich mich noch nicht mal auf eine falsche Atmung konzentrieren und schaffte so den Anstieg sogar ohne Seitenstechen…
Und Charlie hatte Spaß! Es bereitete ihm totale Freude, durch mich gelenkt vorzugehen und nicht hinter mir ausharren zu müssen. Er stakste zwar immer mit den sehr hohen Schritten, aber total freudig und konzentriert. So gut hatte er noch nie auf meine Richtungshilfen gehört. Für einen kurzen Moment sah ich uns schon zu Hause Canicross durch den Wald laufen! (Diesen Gedanken verwarf ich mit Muskelkater am nächsten Morgen wieder.)
Als wir abends wieder in unserem Ferienhaus waren, konnte ich einfach überhaupt nicht glauben, was an diesem ersten Tag alles passiert war. Mein alter Hund war problemlos mitgelaufen und hatte Freude daran, mein Blindfisch war über sich hinaus gewachsen und hatte mich einen Anstieg hochgezogen. Ohne Unfälle.
2 Wochen, die ich so nie erwartet hätte
Auch die folgenden Urlaubstage waren für mich beeindruckend. Lis war von der Bergluft wie berauscht, spielte am Bachlauf, plantschte bei jeder Gelegenheit im Wasser und lief so sicher und munter, wie schon ewig nicht mehr. Natürlich gab es auch Tage, an denen die alten Gelenke nicht so wollten, wie der kleine Kopf. Dann durfte sie im Rucksack reisen. Ich schnallte mir den Rucksack auf den Bauch, setzte Lis darin auf ein Handtuch, damit sie gut gepolstert ist und ließ den Reißverschluss einfach zur Hälfte offen. Lis thronte im Rucksack, den Kopf auf meiner Schulter und war happy. Bei einer Wanderung setzte sie sich nach einer Pause einfach auf den Rucksack, damit ich sie den weiteren Weg trug. Eindeutige und klare Kommunikation – damit kann ich umgehen.
Und Charlie bewies mit jeden Tag aufs Neue, dass seine Orientierung mit meiner Hilfe nahezu perfekt ist. Fremde Wege, unwegsames Gelände, Steigungen, Schwimmen in Bächen und Seen – er hat einfach alles gemacht. Keine Einschränkungen. Hängebrücken, Seilbahn – er ließ sich noch nicht mal von meiner Höhenangst anstecken.
Klar gab es das ein oder andere Hindernis, das ihn eingeschränkt hat, das gefährlichste davon war allerdings der Couchtisch im Wohnzimmer. Den hat er auch nach zwei Wochen in diesem Haus zielsicher umgerannt. Fazit: Draußen klappt alles, drinnen benötigt er einen Helm. (Falls der Couchtisch von Interesse ist: Bei Hunderunden gehe ich näher darauf ein.)
ICH muss mehr tun
Wenn es ein ernsthaftes Fazit ist, so das, dass ICH mehr tun muss. Ich muss Charlie noch mehr zutrauen. Ihn ab und an mehr fordern, über unsere Grenzen gehen. Hatte ich mich zum Beispiel bisher nicht getraut, mit ihm in der Stadt Fahrrad zu fahren, so habe ich das nach unserem Urlaub einfach mal gemacht. Durch Köln-Mülheim, an Autos und Passanten vorbei. Nicht auf geschützten Wegen fernab von Gefahren, sondern einfach mitten durch. Und auch hier setzte er all meine Kommandos perfekt um, den Kopf auf Höhe meines Knies, ganz dicht an mir. Ich kann nicht sagen, wie viele Glückshormone diese kleine Tour in mir freigesetzt hat. So viele, dass ich sogar über die Anschaffung eines Zuggeschirrs nachdenke. Es muss ja nicht direkt Canicross sein, aber sportliches Wandern wäre ja auch eine Option..